Jean Michel Jarre, 56, Sohn des Filmkomponisten Maurice Jarre (»Dr. Schiwago«), gründete in den sechziger Jahren mehrere Bands und wurde 1976 als Komponist elektronischer Musik bekannt durch sein Album »Oxygène«. Er tritt seit den achtziger Jahren in gigantischen Freiluftkonzerten als Solokünstler auf - etwa in Peking oder Moskau. Am 10. Oktober wird Jarre auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking spielen. Er wohnt in Croissy-sur-Seine in Frankreich. Hier träumt er davon, nach dem Aufwachen in seine Träume zurückkehren zu können
Als ich jung war, habe ich mich oft gefühlt wie von Albert Camus. Wie der junge Meursault, dieser Mensch ohne jede Absicht und jeden Ehrgeiz, ohne Gewissen auch, seltsam entkoppelt von der Welt ringsum. So wie Meursault bei Camus durch Algier trieb, lief ich durch die Menschenmenge auf den Straßen von Paris und fühlte mich, als wäre ich in einem Film. Oder als liefe ich durch die Kulisse eines Theaterstückes. Ich glaube, viele Teenager werden verstehen, was ich sage. Da sind reale Menschen – aber hat man eine Verbindung zu ihnen? Was ist die Definition von Realität? Wo beginnt sie? Ich denke, das ist die wichtigste Frage für junge Menschen.
Mir schien
es damals immer, als ob sich die reale Welt jederzeit in einen Traum
verwandeln könnte. Bis heute ist die Verbindung mit der Traumwelt Teil
meines Alltags, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit kommt mir
merkwürdig weich vor. Und als Künstler wünscht man sich, dass ein Traum
für andere fühlbar wird. Wenn man Musik macht, schreibt oder malt, lebt
man in einem Reich der Fantasie, aus dem heraus man Verbindung zur Welt
aufzunehmen versucht.
Ich glaube, dass ich ein extremer Träumer bin, tags wie nachts: Als ich 1981 das erste Mal nach China kam, wusste ich kaum etwas über das Land. Aber drei Jahre zuvor hatte ich einen sehr detaillierten Traum davon gehabt, in Peking
zu sein. Ich ging durch die Straßen und sah Menschenmassen in Blau und
Grün, und mittendrin bunte Flecken. Ich wusste nicht, was das bedeutete.
Drei Jahre später aber sah ich dieses Bild in der Realität wieder, die
Masse, die Einheitskleidung, die bunten Punkte dazwischen – damals
durften nur Kinder unter fünf Jahren bunte Kleidung tragen.
Einmal träumte ich auch von einer Session mit den Rolling Stones. Als ich aufwachte, sagte ich meiner damaligen Frau Charlotte Rampling:
»Ich hatte einen sehr merkwürdigen Traum. Ich kann mir das nicht
erklären.« Später, am Nachmittag, kam ein Anruf von meiner Plattenfirma,
Mick Jagger wolle mich erreichen. Er bat mich, bei einer Aufnahme mitzuspielen. Ein anderes Mal träumte ich von Salvador Dalí.
Er saß vor mir in einem langen Gewand, um ihn herum waren überall
Pfeifen. Ein paar Wochen später kam ein Anruf von seinem Büro. Dalí lud
mich ein. Es war kurz vor seinem Tod. Ich fuhr nach Spanien, nach Cadaqués,
und besuchte ihn in seinem Haus. Er empfing mich in genau dem Raum, den
ich in meinem Traum gesehen hatte, er trug denselben Umhang, an der
Wand hingen Pfeifen. Dalí hörte zur jener Zeit nur drei Musikstücke:
eine unbekannte Flamenco-Aufnahme, ein Stück vom Violinisten im
Orchester des
Maxim’s
in Paris, den er alle zwei Wochen um eine neue Kassette bat, und schließlich mein Album
Zoolook
. Das hatte ich nicht gewusst. Dalí bat mich auf seine
vollkommene, dalíeske Art, mir Gedanken über die Musik für sein
Begräbnis zu machen.
Ich habe
mich stets geweigert, an diese vorausahnenden Träume zu glauben. Ich
dachte: Das ist vielleicht nur ein merkwürdiger chemischer Prozess im
Gehirn, vielleicht eine Art Déjà vu.
Als Kind
hatte ich einen wiederkehrenden Traum, den ich erst später verstanden
habe. Ich fuhr in einem kleinen Boot auf dem Meer. Mein Boot hing an
einem riesigen Passagierschiff, es war bequem, sogar hübsch, aber eben
sehr klein. Ich sagte mir immer wieder: »Du darfst nicht einschlafen« –
während ich offenbar genau das gerade tat. Als ich aufwachte, hatte mein
Boot keine Verbindung mehr zu dem Schiff. Das Schiff war weg. Ich war
verloren, allein in einem von Felsen durchsetzten Gewässer. Das Wasser
lief in tiefe Schluchten ab. Am Ende stürzte ich immer mit meinem Boot
in die Tiefe.
Verwirrend
daran war für mich, dass es eigentlich ein Albtraum war, aber die
Landschaft trotzdem wunderschön. Ich habe ihn zum letzten Mal gehabt,
als ich ungefähr 18 Jahre alt war; viel später erst habe ich ihn
verstanden: Meine Eltern trennten sich, als ich fünf war, und ich
vermisste meinen Vater, der nach Amerika
gegangen war. Ich wuchs bei meiner Mutter auf und fühlte mich
verlassen. Heute glaube ich, dieser Traum war meine Form der Trauer.
Wenn man sich verlassen fühlt oder unverstanden – das passiert natürlich
in nahezu allen Familien überall auf der Welt –, ist es interessant,
wie man diese Gefühle illustriert. Sigmund Freud
und viele andere haben viel Zeit damit verbracht, Erklärungen zu
finden. Was mich aber interessiert, ist nicht die Bedeutung der Bilder.
Mich interessiert die Kulisse, die Gestalt, die Form. Jeder ist ein
Künstler, wenn er träumt.
Deshalb
war in meinem Leben ein Traum besonders interessant: In meinen
Dreißigern träumte ich häufig, eine Zelle zu sein, eine Zelle inmitten
anderer Zellen, eine Zelle, die durch verschiedene Umgebungen reist. Mal
gehörte ich zu einem menschlichen Körper, mal zu einem Baum, mal zu
einem Sofa. Ich konnte mich von einem zum anderen bewegen. Und ich habe
dort oft Musik gehört. Es ist frustrierend, wenn man die herrlichsten
Klänge der Galaxie hört, aber nichts davon übrig bleibt, wenn man
aufwacht. Dann will ich einfach nur zurück in meinen Traum.
Ich glaube
aber, Musik funktioniert nicht so. Ich glaube, wir sind ein Filter für
etwas, das außerhalb von uns existiert. Manchmal ist es unendlich
mühsam, eine Melodie zu finden – manchmal aber kommt sie von selbst. Man
denkt dann: Das ist Glück. Aber es ist kein Glück. Es hat sich eine Tür
geöffnet.
Aufgezeichnet von
Ralph Geisenhanslüke
Source: zeit.de/2004
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