11/10/2012

POPMUSIK - Fremde Teufel


 02.11.1981

Als erster westlicher Popmusiker trat der französische Synthesizer-Spieler Jean-Michel Jarre in China auf - mit mäßigem Erfolg beim Publikum.


Grellbunte Laserstrahlen blitzen und zucken durch die Riesenhalle, die 18 000 Menschen faßt. Eine Geräuschkaskade mit Wasserfällen, Regenschauern und Hundegebell donnert aus Großlautsprechern in die Runde.

Aber nicht einmal das Rattern kosmischer Maschinengewehre und das Geschoß-Pfeifen eines imaginären Kriegs der Sterne weckt die Arbeiter auf den besseren Plätzen auf, die für Vertreter großer Fabriken aus Peking reserviert sind.

Die verdienten Werktätigen schlummern schon eine Weile. Das Konzert ist aus. Als das Licht angeht, tritt Jean-Michel Jarre in die Bühnenmitte, um den Applaus zu kassieren. Aber es kommt kein Beifall.

Hastig wird der Pantschen Lama, ein religiöser Führer aus Tibet, von der Ehrentribüne zum Podium dirigiert. Dort macht er Shakehands mit dem französischen Künstler, von dem kaum ein chinesisches Regierungsmitglied Notiz nimmt.

Zwei Drittel der Zuschauer im Stadion von Peking bekommen davon nichts mehr mit; sie haben vorher das Weite gesucht. Das erste Popkonzert in China, die Weltpremiere einer "Laser-Harfe", die erste Kostprobe elektronischer Musik für das "kulturell ausgehungerte chinesische Publikum", so Jarre, ist zugleich der erste Flop eines westlichen Showmans im Reich der Mitte.

"Wir hatten ein paar technische Probleme, und das Konzert fing mit Verspätung an. Die Leute mußten früher weg, um den letzten Bus nicht zu verpassen", tröstet sich Jarre bei einem Glas Champagner über den mageren China-Einstand weg.

Stromschwankungen hatten zunächst die Kraft der Lautsprecher gedrosselt, und durch eine plötzliche Frequenzänderung vergaß der Kontrollcomputer ein Programm. Für die folgenden Konzerte in Schanghai mußte es neu aus Paris eingeflogen werden.

Trotz allem Laser-Geflacker mit tanzenden Würfeln und Kreisen und den Licht-Buchstaben "China" und "Frankreich" auf den Hallenwänden fiel kein Schimmer aufs Podest des armen Maestro Huang Feili vom Pekinger Zentral-Konservatorium. Er dirigierte 34 Musiker, die sich mühten, Jarre und seine Synthesizer beim klassischen chinesischen "Lied der Fischer beim Sonnenuntergang" zu begleiten.

Ein größerer Kontrast ist kaum denkbar: hier die chinesischen Künstler S.267 in grauen Mao-Anzugen an traditionellen Instrumenten, dort der Knöpfchen- und Tastendrücker Jarre in elegantem Dandy-Weiß und sein Techniker im Weltraumanzug mit Flackerlicht auf der Stelle, wo das Herz sitzt.

China hat sich noch nicht von der Selbstisolation der letzten 30 Jahre erholt, erst recht nicht von den Erschütterungen der Kulturrevolution, die alle westliche Musik verteufelte. Jetzt zu verlangen -- so ein chinesischer Musiker --, daß man Jarres Maschinenklänge verstehe, sei dasselbe, als wenn man jemanden in ein Raumschiff stecke, ohne daß er vorher einmal in einem Flugzeug gesessen habe.

"Das ist Stoff für fremde Teufel", sagte ein junger Arbeiter, bevor er mitten im Konzert stiften ging: "Ein verplemperter Abend." Die jungen Chinesen, die im Publikum den Löwenanteil stellten, hätten lieber Teresa Teng auf der Bühne gehabt, eine Schnulzensängerin aus Taiwan, deren aus Hongkong eingeschmuggelte Kassetten seit zwei Jahren die Renner auf Chinas Schwarzmarkt sind.

Mit Diplomatie und Hartnäckigkeit ist dem 33jährigen Jarre gelungen, worum sich Pink Floyd und die Rolling Stones nicht zäh genug bemüht hatten: die ersten westlichen Popmenschen auf dem riesigen Marktplatz China zu sein. Jarre konnte die chinesischen Autoritäten von der "Modernität" seines Synthesizer-Gesäusels überzeugen, das er im Westen auf mehr als zehn Millionen Schallplatten verkauft hat, und handelte alle Aspekte des Deals persönlich auf drei China-Reisen aus.

"Jarres Image ist modern, nicht dekadent. Das mögen die Chinesen", sagt sein Publicity-Agent Bernard Dulot. Denn in der Presse wird Chinas Jugend fast täglich vor den "schlechten Gewohnheiten" des Westens gewarnt, und die größte kulturelle Sünde trägt den Namen "bürgerlicher Liberalismus". Jarre wurde schließlich offiziell nach China eingeladen, um dort zu spielen.

Bislang hatte der smarte französische Elektronik-Fummler, sozusagen ein Clayderman des Synthesizers, seine Weichspüler-Musik im Studio komponiert und nur selten öffentlich vorgetragen. Immerhin: Sein Sinn für spektakuläre Publicity-Effekte ließ ihn am 14. Juli 1979 vor einer Million Zuschauern auf der Pariser Place de la Concorde in die Tasten greifen.

So waren Peking und Schanghai angemessene Schauplätze für Jarres neuen Werbe-Coup. Mit einem Troß aus 81 Menschen, darunter seine Mutter und seine Frau, die Filmschauspielerin Charlotte Rampling, und einer Fracht, die 17 Tonnen wog, reiste der Muzak-Meister an.

An Pekings Mauern klebten Poster mit Jarres lächelndem Gesicht zwischen schulterlangen schwarzen Haaren, und die Zeitungen druckten Kleinanzeigen, in denen die beiden Konzerte mit dem Hinweis angekündigt wurden: "Kein Zutritt für Kinder unter einem Meter."

Ein bißchen wärmer als in Peking reagierte das Publikum in Schanghai, aber auch hier gelang es Jarre nicht, die Leute zu Begeisterung oder Applaus zu bewegen. Nicht einmal Charme und Schauspielkunst der Jarre-Gemahlin Rampling wirkten: Sie war auf die Bühne gekommen und hatte versucht, die Zuhörer mit demonstrativ-rhythmischem Händeklatschen anzumachen.

Als Jarre nach eineinhalb Stunden das Konzert-Ende verkündete (wahrscheinlich mit Rücksicht auf den letzten Bus), weigerten sich die meisten Zuschauer, zu gehen. Sie wollten mehr fürs Geld. Überraschend kam Jarre so zur Gelegenheit, eine Zugabe loszuwerden, und sein Pariser Plattenboß Francis Dreyfus jubelte: "Ein Erfolg, ein phantastischer Erfolg!"

Geschäftlich war Jarres China-Karawane zweifellos ein Erfolg. Das Abenteuer kostete den Multimillionär zwar mehr als zwei Millionen Mark, "aber das ist Werbung für uns. Mit dem, was hier passiert ist, haben wir jetzt Arbeit für ein ganzes Jahr", freut sich Reklame-Mensch Dulot.

"Jean-Michel Jarre in China" ist der geplante Titel einer TV-Dokumentation, die angeblich schon an 40 TV-Stationen in aller Welt verkauft ist, und ein 90-Minuten-Film über das Ereignis soll in die Kinos kommen. Ein englisches Team filmte jeden Schritt, den der Softkünstler in China machte.

"Jarre in China" ist ein Platten-Doppelalbum mit Konzert-Ausschnitten, "Jarre in China" ist auch das Thema dreier Bücher, die in Bild und Text die so bedeutende Unternehmung für die Nachwelt dokumentieren sollen.

Jarre wird auch der erste westliche Popmusiker sein, dessen Platten in China gepreßt und verkauft werden. Dafür mußte er zugestehen, daß erst einmal eine Million Kassetten und 100 000 Platten mit seinen Hits veröffentlicht werden, ohne daß er dafür Tantiemen kassiert.

"Das wird uns den Markt öffnen", fiebert Dulot, "eines Tages können wir dann unsere eigenen Platten hier verkaufen." Jarres Fernost-Expedition ist also von ähnlich edlem Impuls beflügelt wie China-Reisen der Händler im 19. Jahrhundert, die -- so Dulot -- davon träumten, "jedem Chinesen mindestens einen Zahnstocher oder eine Schlafmütze" zu verkaufen.



 DER SPIEGEL 45/1981

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