09/10/2012

Elektro-Pionier Jean Michel Jarre

 
27.12.2009



Seit dem hypnotisierenden Elektro-Album "Oxygène" ein Pionier der Szene: Jean Michel Jarre (Foto aus dem Jahr 2005)

"Als Rockstar wäre ich längst verrückt"
Wie fühlt es sich an, vor Millionen Menschen Musik neu zu erfinden? Jean-Michel Jarre geht wieder auf Tour - der Pionier des elektronischen Sounds, der Meister gigantischer Massenkonzerte. Mit SPIEGEL ONLINE spricht er über Größenwahn, Deutschland und seine Skepsis gegenüber einer digitalisierten Welt.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben vor dreieinhalb Millionen Menschen in Moskau gespielt, sind vor dem Papst aufgetreten, bei den Pyramiden von Gizeh, wollten sogar mit einem aus dem All zugeschalteten Astronauten Musik machen - kennen Sie keine Grenzen?
Jean Michel Jarre: Meinen Sie mich? Das hört sich so an, als ob Sie über jemand anderen sprechen - seltsam. Aber stimmt schon, ich habe das alles erlebt. Und es war nicht mal beabsichtigt. Es ist mir alles mehr oder weniger in den Schoß gefallen. Auch wenn es später hieß: Der Jarre spielt nicht vor einem Publikum, das kleiner ist als eine Million Menschen.
SPIEGEL ONLINE: Nach ihrem ersten Auftritt vor einem Millionenpublikum, 1979 in Paris, sollen Sie derart geschockt gewesen sein, dass Sie für ein Jahr in eine Art Starre verfielen.

Jarre: Das stimmt. Ich war regelrecht erschlagen. Ich bin erst wieder klar gekommen, als ich begriffen habe, dass ich das Ganze nicht als Auftritt eines Megalomanen sehen darf, der auch noch ich selbst bin. Sondern dass ich mich als Teil eines größeren Bildes verstehen muss, als ein Element von vielen: Dazu kommen die Bühnenarchitektur, die Lichtshow, die Stadt außenrum, die Umwelt, das Ökosystem. Man muss meine Shows als Kreuzung aus Konzert und Landschaftskunst verstehen. Wenn ich mich für einen Rockstar halten würde, wäre ich längst verrückt geworden.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Welttour 2010 findet in Hallen statt. Wo ist die Landschaftskunst geblieben?

Jarre: Das ist doch keine normale Tour, das ist Konzeptkunst! Bei dieser Tour geht es darum, die Erfahrungen der Outdoor-Konzerte zu nutzen und diese Magie auf einen kontrollierbareren Raum zu übertragen. Draußen müssen Sie sich auseinandersetzen mit dem Wetter, dem Wind, dem Regen. In einem kontrollierbareren Raum wie einer Halle, können Sie Sound und Inszenierung eines Konzerts auf eine ganz andere Art verschmelzen lassen. Die beiden ersten Länder, in denen ich 2010 auftrete, sind Deutschland und Frankreich, dann erst kommen Amerika und der Rest der Welt. Das gefällt mir, wegen all der Verbindungen, die ich zu Deutschland habe.

SPIEGEL ONLINE: Sie meinen, weil Sie neben ihren Altersgenossen von Kraftwerk der Elektromusikpionier der siebziger Jahre waren?

Jarre: Naja, wissen Sie, ich bin aus Lyon - und Lyon ist, wie man dort sagt, der Mittelpunkt der Welt der Genüsse. In meiner Familie hat man immer gut gegessen und guten Wein getrunken. Und elektronische Musik ist sehr nah am Essen und Kochen. Man mixt die Zutaten, die Gewürze - bei den deutschen Musikern meiner Generation ist das allerdings ganz anders. Die nähern sich elektronischer Musik auf roboterhafte Weise. Maschinenmusik. Das ist nicht mein Konzept. Aber Deutschland ist schon seit meiner Kindheit nicht irgendein Land für mich.

SPIEGEL ONLINE: Aha?

Jarre: Mein Onkel war nach dem Krieg Chef der französischen Lebensmittelverwaltung in Berlin. Ich war als Kind oft in den Sommerferien dort - das ist das eine.

SPIEGEL ONLINE: Und das andere...

Jarre: ... ist, dass meine Mutter im Konzentrationslager saß. Sie war eine wichtige Figur in der Résistance. Sie wurde von den Nazis dreimal gefangen, sie floh, schließlich kam sie nach Ravensbrück.

SPIEGEL ONLINE: Hat Ihre Mutter über Ravensbrück gesprochen?

Jarre: Jeder, der in einem Lager saß, ist traumatisiert. Das größte Trauma für sie war der Transport nach Ravensbrück. Während eines Bombardements wurde der Zug für 24 Stunden gestoppt. Die Nazis ließen die Frauen im Zug zurück. Viele sind erstickt. Meine Mutter erzählte mir, dass es nur ein kleines Luftloch im Waggon gab und ihr klar wurde: Wenn sie und die anderen Frauen sich weiter bewegen und schreien würden, dann würden sie sterben - an Sauerstoffmangel. Sie erzählte mir später, dass sie, obwohl sie eine solche Situation noch nie erlebt hatte, den anderen Frauen mit ganz ruhiger Stimme sagte: Wir müssen uns alle hinsetzen und still sein! Sie wurde klaustrophobisch wegen dieser Erfahrung. Sie konnte zum Beispiel keinen Fahrstuhl betreten. Das hat sich auf mich übertragen. Als Kind litt ich an Klaustrophobie. Heute ist es besser. Aber um auf meine Mutter zurückzukommen: Als die Alliierten anrückten, flüchteten die Nazis mit den Gefangenen in einen Wald - dort ist sie ihnen entkommen, wie in einem Film.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" gesehen?

Jarre: Ja. Ziemlich lustig. Was ich an Tarantino wirklich mag, ist, dass er Dinge tut, die sonst nur ein Kind tun würde: "Jetzt machen wir mal was ganz Verrücktes. Wir bringen Hitler um!" Und dann macht er es.

SPIEGEL ONLINE: Ihr Vater Maurice Jarre hat Filmmusik komponiert und ist damit berühmt geworden.

Jarre: Meine Eltern trennten sich, als ich fünf war. Er lebte in einem anderen Land, in den USA, und war weit weg. Er ist im Frühjahr gestorben. Für mich war das so, als ob mein Vater zum zweiten Mal stirbt. Aber wenn jemand wirklich tot ist, kann man trauern, sich verabschieden, dann ist es vorbei. Seine jahrzehntelange Abwesenheit dagegen habe ich als ein Loch in der Seele empfunden.

SPIEGEL ONLINE: Seine Soundtracks für "Lawrence von Arabien" oder "Doktor Schiwago" sind berühmt und dürften dementsprechend präsent gewesen sein - oder haben Sie sich die Filme, für die er Musik gemacht hat, gar nicht angeschaut?

Jarre: Für mich war das ziemlich abstrakt. Soundtracks waren damals in den Medien kein derartiges Thema wie heute.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind dann auch Musiker geworden. Hat Sie das einander näher gebracht?

Jarre: Wir haben nie über Musik miteinander gesprochen. Wir haben uns gelegentlich getroffen und Smalltalk gemacht; wie das eben so ist, wenn man irgendjemanden gelegentlich trifft. Er war sehr seltsam. Und vorsichtig formuliert: Er war der Idee von Familie nicht sehr zugetan.

SPIEGEL ONLINE: Wie sehr interessieren Sie selbst sich für die Musikergeneration nach Ihnen, für Franzosen wie Air, Daft Punk oder Justice zum Beispiel?

Jarre: Ich war immer überzeugt davon, dass elektronische Musik nicht nur ein Musikstil ist. Es ist eine ganz andere Methode, Songs zu schreiben. Früher oder später, das wusste ich immer, würde sie sehr populär. Das ist jetzt der Fall. Lange haben DJs elektronische Hilfsmittel nur benutzt, um Musik zu mixen - das war deshalb noch längst keine elektronische Musik. Dann erst kamen wirkliche Produzenten elektronischer Musik: Daft Punk, Air, Justice die sehr viel damit gemein haben. Der DJ Vitalic überarbeitet gerade eine meiner ersten Sachen, "La Cage" aus dem Jahr 1967. Wir werden es als Limited Edition von etwa 2000 Stück veröffentlichen - aber selbst das dürften zehnmal mehr Platten sein, als ich damals verkauft habe.

SPIEGEL ONLINE: Von Ihrem Album "Music For Supermarkets" haben Sie 1983 nur ein einziges Exemplar pressen lassen.

Jarre: Mir ging es darum zu sagen, dass die CD, die damals neu war, das Ende der Musikindustrie einläuten könnte. Sie wirkt einfach billig. Sie ist nicht sexy. Sie hat nichts mit einem Buch zu tun oder einer Schallplatte. Man ging das Risiko ein, dass Tonträger den Leuten nichts mehr bedeuten. Und genau so ist es gekommen.

SPIEGEL ONLINE: Eigentlich erstaunlich, dass jemand, der elektronische Musik macht, sich gegen Digitaltechnik sträubt.

Jarre: Die alten elektronischen Synthesizer sind heutiger Digitaltechnik doch weit voraus. Ich bin froh, dass ich nie einen habe verschrotten lassen - und werde einige mit auf Tour nehmen. Dieser organische und sinnliche Zugang zu Klängen, den alte Synthesizer bieten: Die kann man mit den Händen bedienen. Und selbst wenn mal etwas schief geht, ist das aufregend. Gerade heute, wo die Leute generell Angst haben, dass etwas nicht klappt. Wir leben ja in einer Gesellschaft, in der alles am richtigen Platz sein muss. Diese Instrumente sind so wichtig wie eine Stradivari oder die E-Gitarre von Les Paul für den Rock'n'Roll - auch wenn sie momentan fast ausgestorben sind, haben sie ihre Zukunft noch vor sich.

Jean Michel Jarre, Tour 2010: 3. März Braunschweig, 4. März Hamburg, 5. März Berlin, 6. März Oberhausen, 9. März Stuttgart, 11. März Leipzig, 12. März Bamberg, 13. März München, 14. März Mannheim

Alle Fotostrecken

Jarre 2008 bei einer Bühnenperformance: "Kreuzung aus Konzert und Landschaftskunst"

Seit den ersten Auftritten vor Millionenpublikum heißt es über Jarre: "Der Jarre spielt nicht vor einem Publikum, das kleiner ist als eine Million Menschen."

Experiment: Er hat an den aufregensten Orten von den ägyptischen Pyramiden bis zum Pariser Place de la Concorde gespielt. 2010 kommt er auf Welttournee - in geschlossenen Hallen.

Jean Michel Jarre 1977 mit seiner damaligen Ehefrau, der britischen Schauspielerin Charlotte Rampling. Die Ehe wurde Mitte der Neunziger geschieden

Source: 
Jean Michel Jarre Electro-Pionier

Das Interview führte Sebastian Hammelehle.

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