Er besuchte die Sorbonne und das Pariser Konservatorium und
schloss mit Auszeichnungen ab. Seit "Oxygène" im jahr 1975 zählt Jarre
zu den einflussreichsten Elektronikmusikern - seine neue CD "Aero", im
5.1. Surround Sound abspielbar, erscheint Anfang Oktober.
Von Interview von Alexander Gorkow
SZ am Wochenende: Jean Michel, wieso sehen Sie so jung aus? Wahnsinn, Sie sind 56 Jahre alt.
Jean Michel Jarre: Sie sind lieb
Jean Michel Jarre: Sie sind lieb
SZW: Verzeihung, aber mit plastischer Chirurgie hat es nichts zu tun, oder?
JMJ: Sie sind doch nicht lieb. Die Antwort ist ein dezidiertes: Non, Monsieur! Ich habe gute Gene. Mein Vater ist 80 Jahre alt - und sieht sogar noch jünger aus als ich.
SZW: Sie sind vermutlich froh, nicht in Frankreich zu sein. Isabelle Adjani, von der Sie sich gerade trennten, macht Ihnen dort derzeit das Leben schwer.
JMJ: Nun, so etwas kommt vor. Huuh, ja...
SZW: Wir müssen nicht darüber reden.
JMJ: Sie läuft in den Räumen von diesen Illustrierten herum und erzählt Sachen über mich. Ich habe keine ruhige Minute. Menschen kommen zusammen, Menschen trennen sich wieder, Menschen verlieren die Nerven. Die alte Komödie.
SZW: Sie ist aufgebracht. So sind die Frauen, wenn sie aufgebracht sind.
JMJ: Erzählen Sie mir nichts über die Frauen! Das sind Zeitungen und Blättchen, die Isabelle bisher immer verklagt hat, wenn sie über sie berichteten! Nun marschiert sie da hinein und singt das hohe C!
SZW: Ich möchte mit Ihnen über die Botschaft hinter Ihrer Musik sprechen.
JMJ: Ah, ein philosophisches Gespräch. Es ist immer gut, in Deutschland zu sein.
SZW: Wieso?
JMJ: Weil Deutschland, ähnlich wie Frankreich, ein Land der Philosophen ist. Deutsche stellen immer ernste und philosophische Fragen. Deutsche Kulturjournalisten haben meistens Philosophie studiert.
SZW: Was ist die Botschaft hinter Ihrer Musik?
JMJ: Also, ich habe kaum Texte in der Musik. Aber es geht natürlich um, ja: um Sex.
SZW: Oh.
JMJ: Wieso ,Oh'?
SZW: Sex hatte ich als Botschaft gar nicht auf der Agenda. Wieso eigentlich nicht? Wie dumm von mir...
JMJ: Nun, dann ändern wir die Agenda, kommen Sie! Meine Musik ist für mich Sex. Ein Ausdruck von Sexualität und Liebe und Verlangen. Ich habe als Student nach einem kreativen Ausdruck gesucht, ich habe gemalt zum Beispiel. Ich war fasziniert von der Literatur und der Philosophie. Sehr fasziniert von der Architektur. Ich bin bei der Musik gelandet. Und bei Ihrer Verbindung zu Architektur, zu Räumen, zu Körpern. Ich mache räumliche und körperliche Musik. Auch das liegt in der Familie. In den Genen. Wie mein wunderbares Aussehen.
SZW: Malerei ist oft auch sexuell motiviert.
JMJ: Natürlich, Pollock und so weiter. Aber die Musik hatte mich bald am Kragen. Musik ist Kochen, und Kochen ist Sex.
SZW: Kochen ist Sex?
JMJ: Natürlich! Musik und Kochen und nicht zuletzt das Essen sind absolut quasisexuelle Handlungen! Alles eins!
SZW: Ah, oral...
JMJ: Na, Sie mischen Töne, Gewürze, Sie tasten und mischen, führen die Hände zum Mund, all' das ist oral und sinnlich und, nun ja, feucht, und im besten Fall auch sehr, sehr heiß. Nicht wahr?
SZW: Kochen Sie gern?
JMJ: Ja.
SZW: Das Malen ist...
JMJ: Beim Malen fehlt der Rhythmus.
SZW: Auch Bilder haben einen Rhythmus.
JMJ: Ja, aber einen abstrahierten, auf dem Bild haben sie einen sichtbaren Rhythmus, keinen hörbaren Rhythmus. Der hörbare Rhythmus ist aber der gefühltere, der sexuellere, der geheimnisvollere Rhythmus. Sind wir uns einig?
SZW: Einige Ihrer Stücke, wie "Diva" zum Beispiel, wirken extrem sexuell motiviert, in "Souvenir de Chine" klingt sogar das Klicken der Fotokamera sexuell...
JMJ: Mögen Sie es?
SZW: Oh, bei "Souvenir de Chine" kommen mir fast die Tränen. Sie legen da diese Morricone-artige Melodie drüber.
JMJ: Sie lieben das Stück. Wunderbar.
SZW:Aber ich überlege gerade, ob die spezifische Botschaft Ihrer Musik nur Sex ist.
JMJ: Von einer spezifischen und einzigen Botschaft zu sprechen, das ist sicher schwer. Was assoziieren Sie mit meiner Musik?
SZW: Als ich zehn Jahre alt war, schenkte man mir Ihre Platte "Oxygène". Ich dachte beim Hören - und dies geht mir immer noch so mit Ihrer Musik: Da schwebt so ein Astronaut, dessen Leine zum Raumschiff gekappt wurde, ratlos durchs All. Der spielt Melodien auf einer kleinen Orgel, weil er ja was tun muss da oben. Ihre Landsleute von "Air" haben das übernommen, die wirken wie eine einzige Eloge auf Jean Michel Jarre...
JMJ: Der Astronaut. Wie schön. Nun, was wäre demnach denn die Botschaft?
SZW: Abzuheben. Keine Fragen zu stellen. Keine Antworten zu suchen. Eine Form von sehnsüchtiger und ratloser und manchmal ironischer Romantik. Kritiker unterstellen Ihnen Eskapismus.
JMJ: Alle Kunst ist Eskapismus. Sobald ein Künstler einen Pinsel in Farbe taucht, sobald ein Musiker ein Instrument in die Hand nimmt, beginnt Eskapismus. Schreibe ich Leitartikel? Nein. Ist meine Musik unpolitisch? Ich glaub wieder: nein. Sogar Bob Dylan ist auf seine Art Eskapist. Dabei ist er explizit politischer als ich. Sogar Michel Houellebecq ist ein Eskapist - der sowieso.
SZW:Er hält sich für einen Realisten.
JMJ: Er hält sich für einiges. Seine ersten beiden Bücher waren gut. Aber "Plattform" war kein gutes Buch. Absoluter Mist.
SZW: Irgendwo stand, er habe es seinen Fans mit dem Buch richtig besorgen wollen ...
JMJ: Natürlich. Gelutsche, Geficke, und am Ende fliegt alles in die Luft. Es ist auf den Effekt hin geschrieben. Traurig.
SZW: Was ist seine Botschaft?
JMJ: Weiß nicht. Sexueller Realismus? Realistischer Sexismus? Keine Ahnung. Es wird viel gebumst.
SZW: Da seid Ihr ja in Frankreich...
JMJ: Jaja, schon gut. Aber ich möchte ja auch erstmal die Sprache und die Geschichte lieben, und nicht die Botschaft. Mein Gott, wir sind das Land von Camus und Sartre, von Philippe Sollers! Das ist eine reine, fesselnde Sprache. Solche Schriftsteller haben wir kaum mehr. Habt ihr noch einen Günter Grass?
SZW: Grass schreibt heute über Alterssex, Walser schreibt auch über Alterssex ...
JMJ: Sie sind halt alt. Was sollen sie tun? Da haben Sie's wieder: eine Komödie.
SZW: Okay, Sie mögen keine fetten Farben in der Literatur.
JMJ: Einer meiner engsten Freunde war Anthony Burgess! Der benutzte fette Farben. Aber er hatte auch Geschichten zu erzählen, finstere, ernste und doch extrem komische Geschichten. Er konnte halt schreiben. Ich vermisse ihn sehr.
SZW: Könnte man sagen: Dylan ist Literatur - und Jean Michel Jarre ist Kino?
JMJ: Ja. Ich entwerfe eher Bilder als Botschaften. Aber entwerten Sie Dylan nicht. Er entwirft Bilder mit seiner irren Sprache.
JMJ: Wir reden nur über Sex, merken Sie das? Der Sex ist die Macht. Lesen Sie Burgess! Lesen Sie Sartre! Sex, Sex, Sex! Das Sexuelle ist das Traumverlorenste, zu dem Menschen fähig sind, oder nicht? Und ich bin sowieso - und hier mal nicht nur im sexuellen, also positiven Sinne - traumverloren. Seit mein Vater uns verließ, ich war damals fünf Jahre alt, bin ich traumverloren.
SZW: Könnte man sagen: Sie sind geflüchtet?
JMJ: Wenn Sie Kinderbilder von mir anschauen, sehen Sie immer und stets ein ernstes Kind. Auf der Flucht in eine sehr hermetische Innenwelt: le petit Kafka.
SZW: Heute sind Sie ein lebensfroher Mann.
JMJ: Ich habe
mich mit mir arrangiert, die Musik hält mich in der Schwebe zwischen
Erde und All. Ich weiß, dass da mein Platz ist. Ich kann es nicht
ändern, und im Gegensatz zu früher versuche ich es auch nicht mehr. Da
ist eine stete Grenze zwischen Traum und Realität in meinem Leben, es
liegt ein dicker Nebel über dieser Grenze. Durch den laufe ich. Das hört
man meiner Musik sicher auch an, das hörte man schon "Oxygène" an, das
ist in Ordnung so. Insofern ist es interessant, dass Sie als Kind einen
einsamen Astronauten vor Augen hatten.
SZW: Sie spielen live unter Einbeziehung jeglicher
Metropolenarchitektur und vor bis zu drei Millionen Menschen an einem
Abend. Ihre Konzerte sind Events, ganze Städte werden beleuchtet. Doch
waren Sie nie der Typ, der das Mädchen aus der 1.Reihe nach dem Konzert
mit aufs Zimmer nehmen wollte. Sie waren nie der Rockstar im
eigentlichen Sinne.
JMJ: Nun, bei meinen Konzerten gibt es keine
1. Reihe. Und Rockstarattitüden haben mich immer abgestoßen. Ich halte
das Bumm-Bumm der Rockmusik nicht für erotisch, zumindest nicht im
traumverlorenen Sinne. Das Bumm-Bumm ist ja eher der Akt als der Weg zum
Akt. Oder?
SZW: Bei Ihnen macht es selten Bumm-Bumm. Ihre Rhythmen sind filigraner, nervöser, eher so Didipp-zirrp-didapp-sidirrr . . .
JMJ: Alors! Und wissen Sie warum? Denken Sie an die Zellen! Die Zellen sind aufgeregt! Didipp-zirrp! Der Eros zappelt!
SZW: Sicher.
JMJ: Schauen Sie, das Faszinierende an der Sexualität ist doch nicht der schlussendliche Akt. Der ist natürlich toll. Aber er ist nicht geheimnisvoll, oder? Sagen Sie!
SZW: Nun, unter Umständen ist er ...
JMJ: Non!! Das wirklich Faszinierende ist alles davor: wenn die Zellen in Ihrem Körper verrückt spielen, wenn die Botenstoffe hin und herschießen, aber das ist kein Bumm-Bumm! Das ist Didipp-zirrp-didapp-sidirr! Das Bumm-Bumm ist der letzte Weg zum Orgasmus, das Didipp-zirrp-didapp-sidirr, das ist die großartige Strecke davor, der Blick, die Berührung, die Vorstellung von dem, was noch kommt, lesen Sie Nabokov, aaah ...
SZW: Sie lieben dieses Didipp-zirrp-didapp-sidirr, Ihre Musik ist voll davon.
JMJ: Natürlich liebe ich es. Es ist der Rhythmus der Verführung, der Rhythmus muss verführen, die Töne sind eher mit den Flächen der Maler vergleichbar. Ich habe übrigens noch nie mit jemandem über die Sexualität der Zellen gesprochen. Sie stoßen mich auf das Flirrende! Ich hoffe nur nicht, dass Ihre Leser annehmen, hier sitzen zwei Irre im Psychoanalyse-Supermarkt. Was meinen Sie?
SZW: Reden wir über Politik!
JMJ: Ich bin Unesco-Botschafter. Ich engagiere mich auch, nur zum Beispiel, für verfolgte Menschen in China. Jetzt habe ich Angst, Sie zu langweilen. Reden wir besser wieder über Sexualität!
SZW: Sie spielen am 10. Oktober auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.
JMJ: Ich weiß, was Sie nun fragen werden.
SZW:Einige Ihrer intellektuellen Freunde in Paris werden Ihnen das übelnehmen.
JMJ: Das ist mir total egal. "Oxygène" war 1976 die erste Pop-LP aus dem Westen, die in China veröffentlicht wurde.
SZW: Logisch. Es waren ja keine Texte drauf.
JMJ: So ist es. Anfang der 80er Jahre war ich dann der erste westliche Popmusiker, der in China aufgetreten ist. Ich reise seitdem sehr oft dort hin. Ich liebe dieses Land. Es herrscht dort unter den Jugendlichen, unter den Studenten eine Stimmung, die mich an Paris '68 erinnert. Die Chinesen, die mich beknien, jetzt das Konzert zu geben, das sind Künstler, Intellektuelle. Da interessieren mich meine Freunde in Paris wenig. Die Intellektuellen dort sind ein trübsinniger Haufen, Sie müssen sich die mal anschauen, wie sie da herumsitzen und Reden halten.
SZW: Oh, das ärgert Sie aber richtig.
JMJ: Ja, weil wissen Sie: Einige von denen, die da jetzt im Café de Paris in Ihrem zehnten Kaffee herumrühren und zu Bedenken geben, ich müsse in Peking sehr dezidiert die Menschenrechte ansprechen, was waren die nochmal 1968? Mmh?
SZW: Maoisten!
JMJ: Na klar! Zu einer Zeit, als Mao Millionen von Menschen in den Lagern verschwinden ließ! Fahren diese Intellektuellen jetzt nach China, um sich das Land mal anzuschauen? Nein. Sie sitzen mit 15 Tageszeitungen im Café de Paris und reden dummes Zeug. Blasierte Idioten.
SZW: Was hat Ihre Mutter Ihnen mit auf den Weg gegeben? Sie war unter der Naziherrschaft in Frankreich im Widerstand. Sie musste ins KZ Ravensbrück.
JMJ: Sie sagte: ,Jean Michel, die Deutschen sind nicht schlecht. Viele von ihnen haben schlimme Verbrechen begangen, viele andere von ihnen haben unter den schlimmen Verbrechen ebenso gelitten wie wir.' Ich sage Ihnen das nicht, weil Sie Deutscher sind. Aber diese Zeit hat Euch sehr im Griff, oder?
SZW: Wir schauen halt immer so traurig.
JMJ: Ja. Schade. Andererseits logisch. Es sind 60 Jahre vergangen: viel Zeit für ein Leben - wenig Zeit für die Geschichte.
SZW: Wir schauen mit einer gewissen Faszination auf die Franzosen und ihren unbekümmerten Umgang mit Größe ...
JMJ: Konkretisieren Sie das bitte!
SZW: Sie zum Beispiel lassen in Paris Plätze und Bauten von den edelsten Designern in Licht tauchen. In Deutschland würde man denken: Huuu, gleich kommt sicher der Führer wieder um die Ecke.
JMJ: Ich wollte mal vor dem Reichstag etwas inszenieren. Mit viel Licht.
SZW: Wieso hat es nicht geklappt?
JMJ: Die Behörden. Es war, glaube ich, alles noch komplizierter als in China.
SZW:Sicher hatte man Angst vor einer Art Licht-Dom im Speerschen Sinne.
JMJ: Ich wollte die Bauten und Baustellen illuminieren. Hat nicht geklappt. Dann kam Christo. Ihr habt es heute mit dem Verpacken, nicht mit dem Illuminieren.
SZW: Wir hatten mal die Loveparade, da liefen die Leute mit Schnullern herum, und Staubsaugern auf dem Rücken!
JMJ: Verstehe. Ihr braucht aber eher schöne, sinnstiftende, detraumatisierende Erlebnisse. Es ist eine psychologische Sache. Man darf nichts vergessen. Aber ihr müsst lernen, wieder zu lachen.
SZW: Hatten Sie Sex mit Françoise Hardy?
JMJ: Bitte? Wie kommen Sie jetzt darauf?
SZW: Wir sind über der Zeit. Das will ich noch wissen. Ich habe eben drüber nachgedacht, als wir über Sex sprachen. Hatten Sie Sex mit ihr? In den 60ern vielleicht?
JMJ: Sie verehren Françoise! Oh, das kann ich verstehen. Ich bin gut mit ihr befreundet. Wenn Sie sie kennenlernen, beachten Sie aber auch: Sie ist verrückt.
SZW: Warum?
JMJ: Sie richtet alles nach den Sternen aus. Sie ist ein Horoskop auf Beinen.
SZW: Ernsthaft?
JMJ: Stellen Sie sich vor: Sie hat die Freundin ihres Sohnes weggeschickt, weil ihr das Sternenbild des Mädchens nicht gepasst hat. ,Da ist die Tür, junge Frau!' Was sagen Sie jetzt?
SZW: Der arme Junge.
JMJ: Ja, und: das arme Mädchen! Andererseits ist Françoise absolut wunderbar. Und nein, ich hatte keinen Sex mit ihr. Ich war, glaube ich, mal nah dran.
SZW: Okay, also Sex, Hitler, China, die Intellektuellen, die Deutschen, darauf war ich natürlich gar nicht vorbereitet ...
JMJ: Ich werde Françoise von Ihnen grüßen!
Source: sueddeutsche.de
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