Die Zentrale des Jarreschen Schaffens liegt ziemlich zentral in Paris, vis-à-vis der Seine. Kaum eingetreten, fühlen wir uns schnell wie in einem Synthesizer-Museum. ARP 2600, EMS Synthi AKS, Mini- oder Memorymoog. Korg PS- 3200 oder Elka Synthex: analoge Schätze, wohin das Auge blickt. Doch eigentlich gar keine gepflegten Museumsstücke, sondern voller Gebrauchsspuren. Unübersichtlich verkabelte Filter-, LFO- und Amp-Module, verschrammte Bedienoberflächen, mit dem Edding nachgezogene Parameterbeschriftungen, beschädigte Holzverkleidungen und jede Menge Phaser! Small Stones in so vielfältiger Ausführung hat man selten gesehen. In jedem der hier aufgebauten KeyboardSetups sind gleich mehrere zu finden. Mittendrin steht auch mal ein Virtuell- Analoger: Auf der zurückhaltend mit Bedienelementen bestückten Oberfläche des Clavia Nord Lead ist ideal viel Platz, um sie mit allerlei Setlist-Anweisungen für Parameter-Modulationen vollzukritzeln – wir selbst hatten das vorher noch nie bemerkt.
Keine Frage: Jarres Synthis werden zweifellos regelmäßig bespielt. Und das nicht nur hier im Studio in Paris. Der Grand Monsieur der Elektronik ist auch einer der analogen Tradition. Live auf der großen Bühne, wo’s geht ohne Computer, dafür umgeben von 60, 70 der analogen Oldtimer – und im Zentrum der Künstler, der seine Fans auch in Riesenhallen gerne per Handschlag begrüßt. So liebt Jean Michel Jarre es noch immer. Das hat er gerade erst wieder im vergangenen Jahr auf seiner jüngsten Europa-Tour klar gemacht. Über sich und seine Mitstreiter wird er uns später, bewusst zweideutig, sagen: „Wir sind wie ein Symphonieorchester mit Elektrizität.“
“Wir sollten nicht vergessen, dass die analoge und die digitale zwei ganz verschiedene Welten sind.“Noch immer stehen wir staunend vor dem Arsenal an Synth-, Drumcomputer- und Sequenzer-Hardware. Techniker bei Jean Michel – das muss einer der härtesten Jobs der Welt sein … „No, no“, beschwichtigt Patrick Pelamourgues, der gerade um die Ecke biegt. Es scheint, als funkelten dem bescheidenen Synth-Crack – seit 1978 technische rechte Hand Jarres – förmlich die Augen, sobald er sich einem der Instrumente nähert. Patrick begleitet noch heute alle Jarre- Touren; denn er weiß genau, wie und wann welches Instrument am besten warmlaufen muss und nachzustimmen ist, damit es pünktlich zum Auftritt wieder zuverlässig arbeitet.
Hier in Paris hat er dann Zeit, alle AnalogDinosaurier vernünftig zu warten. Das geht bis hin zu aufwendigen Restaurationen, für die er Originalteile aus der ganzen Welt aufzutreiben im Stande ist. „Viele beneiden mich um meinen Job“, ist er überzeugt, und demonstriert uns schnell noch ein paar Oxygène-Sounds am EMS und ARP. Doch erst später, nach dem Zusammen – treffen mit Jean Michel Jarre, dämmert uns, was so unterschiedliche Persönlichkeiten – den zurückhaltenden Techniker und den das Millionenpublikum suchenden Elektronik- Mastermind – miteinander verbindet: Es ist ihre Seele, ihre Emotion, die beide in ihr Schaffen hineinlegen.
Extrem wichtig für den Oxygenè-Sound: zwei EMS VCS3, rechts der ARP 2600. Der Screen spiegelt während der Studioarbeit die Ansicht des Rechners in der Regie |
In der Tat: Zwischen Frühjahr 2009 und Sommer 2010 verstarben nicht nur beide Eltern, sondern auch sein erster Produzent: Der Filmmusiker Maurice Jarre, der sich von Jean Michels Mutter scheiden ließ, als das Kind erst fünf Jahre alt war; der dann in Amerika seine Karriere startete, dort noch dreimal heiratete, eher sporadisch Kontakt zur Familie in Frankreich hielt und eine musikalische Zusammenarbeit mit dem Sohn später stets abgelehnt hat. Die Mutter Francette Pejot, die Jean Michel Jarre allein aufzog. Sein musisches Interesse verstand die Jazz-Liebhaberin auf ihre eigene Art zu aktivieren, in dem sie ihren damals schon Klavier spielenden Sohn an seinem zehnten Geburtstag in einen Club entführte, wo ihm Chet Baker trompetend gratulierte.
Und nicht zuletzt Francis Dreyfus. Unter seinem Label veröffentlichte Jean Michel Jarre nicht nur seit 1971 seine Alben, darunter die Welterfolge Oxygène (1976) und Equinoxe (1978); auch war er Mitorganisator des spektakulären ersten „Live-Happenings“ Jarres 1979 auf dem Place de la Concorde in Paris vor über einer Million Zuschauern. Oder des Aufsehen erregenden „Concerts in China“-Projekts, das den Franzosen als ersten westlichen Musiker nach der Mao-Zedong-Ära in die Volksrepublik führte.
Francis Rimberts Setup: Roland Jupiter-8, Korg Polyphonic Ensemble, Elka Synthex, Korg PS-3200, ARP 2500, Nord Lead
Jubiläums der Produktion so, doch vielleicht haben gerade die jüngsten Schicksalsschläge das Besinnen auf die eigenen frühen Tage noch verstärkt. „Wir sind damit zu jenem Sound zurück – gekehrt, mit dem ich meine Karriere gestartet habe“, berichtet Jarre. Mit „wir“ meint er Francis Rimbert, Claude Samard und Dominique Perrier, die seit 2007 mit ihm auf den Bühnen stehen, um Oxygène wieder mit den Originalinstrumenten live aufzuführen.
„Da war plötzlich wieder diese Erfahrung: Wow! Das klingt einfach so anders, als wenn du nur digital mit Computern und Software produzierst. Wir hatten fast vergessen, welch einen Unterschied das macht“, schwärmt er über die guten alten Analogen im Nebenraum.
Klangbeispiel Roland Jupiter 8
Ein Moog Modular, ein Yamaha CS-80 oder ein Mellotron sind für den Synth-Pionier „wie eine Stradivari“. „Sie sind mit Software einfach nicht zu ersetzen. Es ist etwas Grundverschiedenes, ob du an solchen analogen Klassikern schraubst oder versuchst, ein Poti am Mac oder PC mit der Maus zu drehen. Wir sollten nicht vergessen, dass die analoge und die digitale zwei ganz verschiedene Welten sind“, findet Jarre.
Soll das etwa heißen, dass früher alles besser war? Verschließt sich da gar jemand der technologischen Entwicklung? Nein, und nein! Und vor allem gerade nicht Jean Michel Jarre! Der Franzose ist bis heute ein Vordenker geblieben. Seine Konzerte funktionieren auch gerade deshalb als fulminante Massen-Events, weil der Elektromusiker schon immer multimedial gedacht hat. Während Jarre schon Ende der 70er fast besessen davon schien, die Visualisierung seiner Musik auch live mit immer neuer Lichtund später Laser-Technik voranzutreiben, schliefen die meisten anderen Künstler in dieser Hinsicht noch. Und bereits 2000 mischte er sein komplettes Métamorphoses-Album mit einer frühen Version von Pro Tools. Heute liebt er Softsynths wie zum Beispiel Spectrasonics Omnisphere. „Aber manchmal ist es einfach frustrierend, damit nicht so arbeiten zu können wie am Modular-Moog.
Ich erwarte deshalb für die nächsten Jahre auch einen deutlichen Fortschritt in der Entwicklung neuer Interfaces für die digitale Musikbearbeitung“, sagt Jarre, unser Gespräch übrigens schon die ganze Zeit auf seinem iPhone aufzeichnend – „Nur, damit wir auf der sicheren Seite sind.“
Der ARP 2600 in Jean Michel Jarres Setup ist mit einem externen Controller-Knob ausgerüstet, über den die Filter Cutoff-Frequenz gesteuert werden kann. |
Vor allem aber ist es eines, das ihn auch heute noch antreibt, sich live mit einer ganzen Armada an Analogsynths mit all ihren technischen Unzulänglichkeiten und individuellen Macken zu umgeben. Klar geworden sei ihm das unter anderem während der Restauration alter Analogtapes für seine Francis Dreyfus gewidmetes Doppel-Werk Essentials & Rarities – erhältlich übrigens auch auf Vinyl: „Der Sound ist wirklich außergewöhnlich – man hört förmlich die Wärme alter Transistoren.“
Am Bedienfeld des RMI-Synthesizers erkennt man, wie liebevoll Patrick Pelamourgues die Vintage-Synthesizer restauriert. Das Gerät ist ohnehin schon eine Rarität und sieht hier absolut neuwertig aus. |
Den Gegenentwurf sieht Jarre manifestiert mit Acts wie Air, Massive Attack, Moby – oder auch sich selbst. Jarre begreift sich dabei in der Tradition „der beiden Väter der elektronischen Musik Pierre Schaeffer und Karlheinz Stockhausen“. Sein Ansporn als junger Student aber sei die Idee gewesen, „Experimentalmusik mit Melodien und Popsound zu verbinden“.
>> Die Synth-Legenden aus dem Hause Moog <<
Und Bezeichnenderweise ist dem Sohn des Komponisten epischer orchestraler Filmmusik Maurice Jarre dann noch eines besonders wichtig zu betonen: „Für mich kommt die elektronische Musik strukturell von der klassischen Musik – wobei ich das in der französischen und deutschen Tradition viel stärker so sehe, als es in der amerikanischen oder der britischen Szene verankert ist. Elektronische Musik hat eine komplexe Struktur, die auf derjenigen von Concertos oder Symphonien basiert – aber nicht diejenige von 3-Minuten-Songs.“
Source: keyboards.de
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