19. Oktober 2015
Jean-Michel Jarre gilt als Pionier der elektronischen Musik und Erfinder von Konzerten als gigantisches Massenereignis. Zu Zeiten von Punk und Disco spielte der heute 67-Jährige "Oxygène" ein, die erfolgreichste französische Platte aller Zeiten.
Auf seinen beiden neuen Alben erforscht der Pariser zusammen mit dem Who is Who der Musikszene die DNA der elektronischen Klänge. Es ist das wohl ambitionierteste und vielfältigste Werk seiner Laufbahn - mit über 30 namhaften Künstlern verschiedener Genres und Kulturen. "Electronica 1: The Time Machine" ist seit 16. Oktober zu haben, der zweite Teil soll im Frühjahr folgen. Als der Soundmeister Hamburg einen Besuch abstattet, erzählt er charmant und entspannt von Begegnungen im Studio, von Boykotten gegen seine Musik und nennt den Grund, warum die nächsten Beatles wohl erst mal nicht gefunden werden.
magistrix: Auf Ihrem neuen Album kollaborieren Sie mit Musikern wie Moby, Massive Attack und Tangerine Dream. Wie haben Sie Ihre Partner ausgewählt?
Jean-Michel Jarre: Ich wollte mich mit Künstlern umgeben, vor denen ich Respekt habe und die eine Inspiration für mich waren und sind. Es ist meilenweit von einem dieser typischen Feature-Alben entfernt, bei denen sich Musiker nur noch MP3-Files hin- und hermailen. Ich habe jeden Einzelnen persönlich gefragt, ob er mit mir ins Studio geht, um der DNA der elektronischen Musik auf den Grund zu gehen.
magistrix: Ist dies also auch als eine Art Statement zu verstehen?
Jarre: Absolut. Wir alle glauben, durch das Internet eng miteinander verbunden zu sein, aber in der Realität halten wir nicht mal mehr einen Plausch mit unserem Nachbarn. Die Grundidee der Platte war also auch, ein Statement für mehr Miteinander abzugeben. Ich hatte viele emotionale Momente mit jedem dieser Musiker. Das war auch Teil meiner Erwartungen.
magistrix: Wen fragten Sie denn zuerst?
Jarre: Das war David Lynch, der aber erst auf dem zweiten Album zu hören sein wird. Ich arbeitete zu der Zeit in einem Atelier an einem Lithografie-Projekt. Lynch ist ein großartiger Maler und arbeitete nebenan. Wir kamen ins Gespräch, ich erzählte ihm von meiner Idee und davon, dass ich ihn gerne mit auf der Platte hätte. Denn als Inspirationsquelle war er immer wichtig für mich. Und das nicht nur in visueller Hinsicht, sondern auch seine Art, Sounds in Filme einzubetten. Er hörte sich einige Tracks an, fand sie toll und sagte mir zu. Er verglich mich sogar mit Picasso, der der elektronischen Musik einen neuen Anstrich verpasst.
magistrix: Wie unterscheiden sich denn Album eins und zwei?
Jarre: Es folgt nicht einem Konzept wie Tag und Nacht, heiß und kalt oder Vergangenheit und Zukunft. Die simple Erklärung ist, dass das erste Album einfach zuerst fertig war. Aber natürlich bestimmte ich später die Reihenfolge der Songs so, dass es auch harmonisch Sinn ergibt.
magistrix: Das jetzt erscheinende Werk wird von dem deutschen DJ und Produzenten Boys Noize eröffnet. Hätten Sie als Franzose da nicht patriotischer sein und DJ David Guetta fragen müssen?
Jarre: Das wäre nicht dasselbe gewesen. Ich wollte Boys Noize, nicht Guetta. Es war mir sehr wichtig, das Album mit einem deutschen Künstler zu eröffnen. Denn elektronische Musik ist am stärksten in Deutschland und Frankreich verwurzelt. Da ist Stockhausen auf der einen Seite, und Pierre Schaeffer auf der anderen. Letzterer war übrigens mein Mentor, er hat das Editieren erfunden und die "Musique concrète". Er verdeutlichte den Menschen, dass Musik nicht nur aus Noten gemacht wird, sondern auch aus Sounds. Jeder DJ heutzutage ist ein Sound-Designer. Elektronische Musik hat viel mehr zu bieten als HipHop, Rock oder Punk, weil es gleichzeitig eine neue Art des Schreibens, Komponierens und Entwerfens von Musik ermöglicht. Und ich liebe Boys Noize. Ich habe ihm das nie gesagt, aber sein Name birgt sehr viel Wahrheit in sich: Er ist tatsächlich sehr lärmend - wie ein Junge.
magistrix: Am meisten überraschen dürfte allerdings Ihre Kollaboration mit The Who-Gitarrist Pete Townshend.
Jarre: Er stand ganz oben auf meiner Liste. Townshend war der Erste, der im großen Rahmen elektronische Sequenzen und Instrumente in die Rockmusik einführte. Ich denke da an Songs wie "Baba O'Riley", der 1971 auf dem Album "Who's Next" veröffentlicht wurde. Außerdem hat er die Rock-Oper als Kunstform erfunden. Rockopern hatten gerade als Student einen enormen Einfluss auf mich. Das drückte sich bei mir dann später aus, indem ich Maler, Tischler und Video-Künstler meiner Generation in meine Live-Shows involvierte, die meine ganz eigenen Opern darstellten.
magistrix: Sie spielten 1990 vor 2,5 Millionen Menschen in Paris und brachen 1997 zum 850. Geburtstag von Moskau Ihren eigenen Rekord mit 3,5 Millionen Zuschauern. Wie fühlt sich so etwas von der Bühne aus an?
Jarre: Es ist vergleichbar mit der Liebesaffäre eines Pärchens. Da ist eine gewisse Spannung zwischen dem Publikum auf der einen und dir und deiner Band auf der anderen Seite. Aber dieses Gefühl gibt es nicht nur bei solch gigantischen Shows.
magistrix: Sie waren der erste westliche Musiker, der nach der Mao-Zedong-Ära in der Volksrepublik China auftreten durfte. Spielen politische Umstände bei Ihren Auftritten eine Rolle?
Jarre: Nein, auf meine Shows hat das keinen Einfluss - aber auf mich als Menschen! Ich bin nun schon seit 25 Jahren UN-Botschafter, UNESCO-Botschafter und der Kopf der CISAC, der internationalen Konföderation von Autoren und Komponisten, die sich für den Schutz des geistigen Eigentums einsetzt. Ich weiß genau, was in der Welt vor sich geht, und ich war immer gegen jede Art von Boykott.
magistrix: Warum?
Jarre: Als Künstler sollte man auch in Ländern auftreten, in denen die Demokratie mit Füßen getreten wird und Menschenrechtsverletzungen vorkommen. Denn sonst würden die Menschen dort nicht nur in ihrer Freiheit eingeschränkt sein, sondern ihnen würde auch noch der Zugang zu Musik, Kino und Künsten verwehrt bleiben. Es gibt doch nichts Schlimmeres, als die Kommunikation mit anderen Menschen total einschlafen zu lassen. Als Künstler musst du also solche Risiken in Kauf nehmen, um Emotionen zu teilen.
magistrix: Wurde Ihre Musik in Ländern boykottiert?
Jarre: Na klar! Zu Zeiten der Sowjetunion war meine Musik im gesamten Ostblock verboten. Wenn ich heute in Ländern wie Polen oder Bulgarien komme, realisiere ich erst, wie wichtig es für die Leute dort war, Zugang zur Musik zu haben - auch wenn das damals nur durch Bootlegs möglich war. Denn es war für die Menschen ein Symbol für Freiheit.
magistrix: Als Reaktion auf die Kommerzialisierung der Popkultur nahmen Sie 1983 das Album "Music For Supermarkets" auf, ließen es auf eine einzige Platte pressen und vernichteten die Mastertapes.
Jarre: Als die Musikindustrie die CD als neues Medium präsentierte, empfand ich, dass da etwas schiefläuft. Der CD-Sound ist qualitativ nicht so gut wie der einer Vinyl-Scheibe. Und schlimmer noch: Die CD sollte seelenlos neben Zahnpasta und Joghurts in Supermärkten verkauft werden. Ich fürchtete damals das Ende der Plattenläden.
magistrix: Wie stellt sich die Situation heute dar?
Jarre: Wir müssen ein neues Business-Model für Musik im 21. Jahrhundert finden. Denn es ist ein Witz, was du als Künstler dafür bekommst, wenn deine Musik bei Spotify gestreamt wird. Davon kannst du dir eine Pizza kaufen, aber für die Peperoni wird es nicht mehr reichen. Und wir sprechen hier über Firmen, die an der Wall Street Milliarden von Dollar wert sind. Ohne die Künstler wären sie nichts.
magistrix: Warum ist Ihnen das wichtig?
Jarre: Da geht es mir besonders um die jungen Künstler, die nicht mehr wie ich damals von der Musik leben können, und ihren Traum deshalb frühzeitig aufgeben müssen. Und vielleicht wären gerade diese jungen Musiker die nächsten Beatles oder Coldplay geworden.
Source: magistrix.de
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