Jean-Michel Jarre begibt sich mit seinem neuen
Album auf Zeitreise durch die Geschichte der elektronischen Musik. Im
Interview erklärt er, warum er Bob Dylan, Lang Lang und David Lynch
bewundert.
Von
Max Dax
26.10.15
JENS KOCH |
Jean-Michel Jarre ist jetzt 67 Jahre alt, und er sieht
unverschämt gut aus. Er sitzt an einem gigantischen Konferenztisch und
blickt seinem Gegenüber tief in die Augen, während seine Managerin in
der Entfernung fast lautlos Geschäfte am Laptop erledigt. Jarre ist um
die Welt gereist und hat sich mit den Köpfen hinter Massive Attack und
Tangerine Dream, mit Moby, John Carpenter und sogar dem Klassischen
Pianisten Lang Lang getroffen, um ein Album aufzunehmen, das alle
Facetten der elektronischen Musik abdeckt. Geschickt inszeniert sich
Jarre auf diese Weise als Pate des Genres, selbst wenn seine letzte
relevante Platte zugleich seine erste war: "Oxygène", aus dem Jahr 1976.
Die Welt: Monsieur Jarre, vor genau vierzig
Jahren versammelte Bob Dylan eine Vielzahl von Persönlichkeiten der
amerikanischen Gegenkultur um sich und ging mit ihnen auf Tournee — auf
der "Rolling Thunder Tour" wurde er von Allen Ginsberg, Harry Dean
Stanton, Joan Baez, Kinky Friedman, Roger McGuinn und vielen anderen
begleitet.
Jean-Michel Jarre: Ich bin ein Fan von Bob Dylan. Ich kenne das Live-Album natürlich. Aber warum fragen Sie danach?
Die Welt: So ähnlich scheinen Sie auch
vorgegangen zu sein: Sie versammeln die wichtigsten Protagonisten der
elektronischen Musik um sich, aber Sie sind das Feuer, um das sich alle
scharen.
Jarre: Natürlich würde ich mich nie mit
Dylan vergleichen wollen – wir könnten uns den ganzen Abend über die
Feinheiten seiner Winkelzüge unterhalten –, aber Sie haben schon recht:
Ich bin mir etwa bewusst, dass die junge Generation der Musiker, die
sich im Feld der elektronischen Musik bewegen — Gesaffelstein, Air, aber
auch Little Boots oder Boys Noize, die alle auf meinem Album dabei sind
—, mich als eine Art Paten des Genres betrachten. Aber wenn man so
viele Egos um sich schart, muss einer die Führung übernehmen und dafür
sorgen, dass das Ergebnis wie aus einem Guss ist, eben keine
zusammengehauene Konzentration von Berühmtheiten. Dazu braucht es eine
starke Person, und zwar mich. Aber unterschätzen Sie mal nicht, wie viel
ich von meinen Beiträgern gelernt habe. Ich bin ja um die ganze Welt
gereist. Ich reiste nach Bristol, um Robert Del Naja von Massive Attack
zu treffen, und nach Los Angeles, um mit John Carpenter
zusammenzuarbeiten. In Wien nahm ich einen Track mit Edgar Froese von
Tangerine Dream gemeinsam auf — Gott habe ihn selig. Er verstarb diesen
Januar. Aber ich bin auch ein klein wenig stolz, dass unsere
Zusammenarbeit zugleich seine letzte war.
Die Welt: Wir leben in einer Zeit, in der Sie alles mühelos über das Internet hätten koordinieren können.
Jarre: Das stimmt, aber genau das wollte
ich durchbrechen. Ihre Analogie zu Dylan ist aber auch in dem Sinne
interessant, als er ja nicht bloß Musiker um sich geschart hatte. Ich
habe mit John Carpenter und mit David Lynch Nummern aufgenommen. Beide
sind Regisseure mit einer gewissen Affinität zur Musik. Aber vor allem
handeln und denken sie wie Filmemacher. Gerade diese Begegnungen haben
mich verändert.
JENS KOCH |
Die Welt: Wie hat Lang Lang Sie inspiriert?
Jarre: Lang Lang ist weit mehr als nur ein
Pianist. Er ist ein Alien. Lang Lang hat immer versucht, Regeln zu
brechen und die Welt des Klangs zu erforschen, die jenseits der
Partituren liegt. Zum Beispiel spielt er nicht vom Notenblatt. Er liest
die Partitur und spielt dann konzentriert aus dem Gedächtnis heraus.
Genau wie Pierre Schaeffer und Pierre Henry, die beiden Erfinder der
Musique concrète, hat er eine Sicht auf die Welt, die diese als eine
Welt des Klangs definiert. Kein Klang, kein Sound ist verboten — vor
allem dann nicht, wenn er als Tonbaustein der echten Welt entnommen
wurde.
Die Welt: Als junger Mann studierten Sie bei Schaeffer. Sie traten 1969 seiner Groupe de recherches musicales (GRM) bei.
Jarre: Sein elementarer Beitrag zur
Musikgeschichte war, dass er die wirklichen Geräusche dieser Welt als
Musik begriff. Für ihn war jeder Klang Musik. Hören Sie gut zu: JEDER
Klang! Der vorbeifahrende Zug, der Autoverkehr, der Presslufthammer, das
Rauschen des Windes. Alles sind Klangquellen oder besser gesagt:
konkrete Klänge, die wie Musik sind. Das war seine Botschaft. Und jeder
elektronische Musiker, jeder DJ, jeder Produzent heutzutage ist in
diesem Sinne einer seiner Enkel.
Die Welt: Wie sehen Sie den Stellenwert der elektronischen Musik in der Musikgeschichte? Und wo sehen Sie sich selbst?
Jarre: Die elektronische Musik ist aus der
kontinentaleuropäischen Tradition der Klassischen Musik erwachsen. Aus
Chopin und Stockhausen. Ich sage das in Unterscheidung zur Rock (Link: http://www.welt.de/themen/rock/)
- und zur Bluesmusik, die afroamerikanischen Wurzeln
entstammt. Ich selbst stand vor der Wahl, entweder ein erfolgloser,
weil experimenteller klassischer Komponist zu werden oder mich für die
Öffnung zur Popmusik (Link: http://www.welt.de/kultur/pop/)
zu entscheiden. Ich begann mich also Anfang der
Siebziger dem Pop und dem Progressive Rock zu nähern. Und voilà: Dann
veröffentlichte ich das Album "Oxygène" und schrieb mich mit diesem in
das kollektive Unterbewusstsein einer ganzen Generation ein. Und ich
sage Ihnen eines: Mit jedem Einzelnen, mit dem ich im Laufe des neuen
Projekts zusammengearbeitet habe, hatte ich früher oder später ein
Gespräch über "Oxygène". Das beweist doch, wie wichtig dieses Album im
Rückblick war.
Die Welt: Haben Sie Lang Lang mit einer Partitur konfrontiert — oder baten Sie ihn zu improvisieren?
Jarre: Sie können einen klassischen Musiker
nicht fragen, ob er improvisiert. Das ist ein Widerspruch. Also schrieb
ich für ihn 16 kleine Partituren, man könnte auch sagen: Miniaturen
oder Aphorismen. Die waren gewissermaßen festgelegt. Aber sie waren
Bruchstücke, einzelne Entitäten, nicht miteinander verknüpft. Die
Verknüpfungen hat Lang Lang, wenn Sie so wollen, selbst hergestellt. Er
warf einen Blick auf die Noten, legte sie weg und machte etwas ganz
eigenes daraus. Insbesondere baute er Brücken zwischen den Teilen.
Die Welt: Das klingt vom Prinzip her, als würde er wie ein Jazzmusiker (Link: http://www.welt.de/themen/jazz/)
spielen — es gibt klare Regeln, aber innerhalb derer ist Improvisation erlaubt.
Jarre: Da haben Sie völlig recht. Wir haben
vor allem darüber gesprochen, worum es in dem Track geht. Er trägt den
Titel "The Train & the River". Der Fernzug und der Fluss sind wie
das Yin und Yang des Reisens, der Bewegung von A nach B. Und wir haben
das in dem Stück versucht zu emulieren: Das Fließen des Flusses und das
Fahren des Zuges — mit dem Klavier und mit den Mitteln der Elektronik.
Foto: Amazon |
Die Welt: David Lynch wird an einer weiteren Folge Ihres Album-Projekts beteiligt sein, das im April 2016 erscheinen soll.
Jarre: Er ist ein Denker im Bereich der
elektronischen Musik. Erinnern Sie sich bitte an die beklemmende
Filmmusik zu "Twin Peaks"! Da zeigt sich die Meisterschaft David Lynchs!
Er ist ein Architekt der Räume und der Stimmungen. Er vermag es,
organische Sounddesigns für Räume zu erschaffen. Manchmal hat man bei
ihm das Gefühl, dass der Klang direkt aus dem eigenen Körper entstammt.
Auch er ist ein Vertreter der Schule der Musique concrète.
Die Welt: Wenn man so viele bedeutende
Künstler trifft, wie halten Sie diese Begegnungen eigentlich für sich
fest? Führen Sie Tagebuch oder machen Sie Selfies?
Jarre: Ich habe mir von jedem meiner
Beiträger seine Fingerabdrücke geben lassen. Ich lasse diese
Fingerabdrücke jetzt vergrößern auf 2 mal 2 Meter.
Die Welt: Das ist ein serielles Prinzip, es ist ein Prinzip von Andy Warhol.
Jarre: Dessen bin ich mir absolut bewusst.
In diesen Fingerabdrücken liegt die DNA. Sie haben also ein im wahrsten
Sinne des Wortes einzigartiges Portrait, und wir sprechen zugleich über
eine höchst ästhetische Angelegenheit. Auf 2 mal 2 Metern wachsen diese
Fingerabdrücke zu übermenschlicher Schönheit. Sie werden zu abstrakten
Gemälden, die freilich auf etwas Konkretem basieren, nämlich der jeweils
einzigartigen Identität des Menschen, den ich getroffen habe.
Jean-Michel Jarre: Electronica I (Columbia/Sony)
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